Lehrforschungsprojekt 2006-2008 Institut für Kulturanthropologie und Europäische Ethnologie Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main
Lehrforschungsprojekt 2006-2008
Institut für Kulturanthropologie und Europäische Ethnologie | Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main
 
“If all tourism is culture and culture has become tourism
where does that leave the study of cultural tourism?”
(Greg Richards 2001)

Kulturtourismus und Europäisierung

Von Oktober 2007 bis März 2008 widmeten sich 17 Studierende des Instituts für Kulturanthropologie und Europäische Ethnologie der Goethe-Universität Frankfurt am Main dem Thema "Kulturtourismus und Europäisierung". Im Zuge der Feldforschungen zentrierte sich das Projekt zunehmend auf die Frage, wie touristische Räume produziert werden und welche AkteurInnen an ihrer Entstehung und Gestaltung beteiligt sind. Als "produktiv" werden dabei auch Verhaltensweisen gefasst, die ansonsten als "passiv" klassifiziert werden wie z.B. Konsum oder Rezeption. Diese Fokussierung auf Prozesse der Herstellung und Aushandlung wird von einem weit gefassten praxeologischen Kulturbegriff ermöglicht, der Welt und Wirklichkeit aus der Praxis, aus dem Handeln und Verhandeln von AkteurInnen zu analysieren sucht.

Die AkteurInnen, die die Forschungen auf diesem theoretischen Nenner in den Blick nehmen, tragen auf sehr unterschiedliche Weise zur Produktion eines europäischen Raumes bei und entziehen sich als gemeinsame ProduzentInnen teilweise den herkömmlichen Dichotomien von Reisenden und Bereisten, Gast und GastgeberIn. Klassische kulturtouristische Praktiken wie der Museumsbesuch (u.a. Michael Hartung über die Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen), film- oder literaturinduzierter Tourismus (Rosemarie Kerschreiter und Katharina Panteleit) und Städtereisen, insbesondere im Hinblick auf die Touristifizierung von Innenstädten (Janina Junge und Dennis Rauschenbach), werden ebenso thematisiert wie "alternative" Formen des Reisens. So werden auch die Rucksackreise quer durch Europa (Kathrin Eckert), die Organisation unentgeltlicher privater Übernachtungsmöglichkeiten über Internet (Sandra Weires), die Teilnahme an Workcamps (Ivona Vilenica) und Geschäftsreisen (Annika Rath) als kulturtouristische Praktiken betrachtet.

Darüber hinaus haben wir die Europäische Union selbst als Akteurin begriffen, die machtvoll in die Gestaltung eines europäischen Reiseraumes eingreift. Vor diesem Hintergrund wird Brüssel, das politischen Zentrum der EU, als Ziel von EuropatouristInnen untersucht (Frauke Quurck) und die Aushandlungsprozesse um die Repräsentation Europas in einem Museum in Brüssel werden beleuchtet (Anne Reitz). Inwiefern die EU auch weit über ihr politisches Zentrum hinaus die Gestaltung touristischer Räume mitbestimmt, verdeutlichen insbesondere die Forschungen über den neuen geografischen Mittelpunkt der EU in Gelnhausen (Sarah Stevens) und die Förderung des Wiederaufbaus historischer Bauten in Kosova, die als kulturelles Erbe begriffen und touristisch erschlossen werden sollen (Drita Jasiqi).

Die unterschiedlichen in dem Projekt untersuchten touristischen Praktiken weisen über den geografischen Raum Europa hinaus auf Aushandlungsprozesse um Repräsentation, Zuordnung und Grenzziehung und folgen schließlich den "Spuren der Auswanderer" auf einer Themenkreuzfahrt im Luxusliner ab Bremerhaven bis nach Ellis Island (Elisa Lorenz). Im Kontext der entstehenden Landschaft von Auswanderungs- und Migrationsmuseen diskutiert, zeigt sich hier, wie "Europa" durch Migration und Tourismus weitergetragen wird, womit auch bislang zumeist getrennt wahrgenommene Mobilitätsformen unter einer Produktionsperspektive gemeinsam in den Blick genommen werden.

Ramona Lenz und Kirsten Salein
Institut für Kulturanthropologie und Europäische Ethnologie
Goethe-Universität Frankfurt am Main



Ein Teil der im Projekt entstandenen Aufsätze wurden Anfang August 2009 in einem Sammelband in der Reihe Notizen veröffentlicht. Mehr Informationen finden Sie hier.

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